Schlagwort-Archive: Offene Seniroenarbeit

Sandra wird 80!

Standard

Alessandra Cuppini Alberti, am 1.9.1940 in Argelato bei Bologna geboren, wird 80!

Allen Dortmunder Aktivisten in der Sozial-, Kultur- und Migrationspolitik seit den 70ern des vorigen Jahrhunderts ist sie ein Begriff. Viele wurden durch ihr Engagement geprägt, Sie war damals „La Dottora“ für die Italienische Gemeinde Dortmunds. Wer ein Problem hatte, ging zu ihr, sie wusste die Lösung! Sie hatte in Germanistik promoviert und bei einem Studienaufenthalt an der Uni Münster ihren späteren Mann, Peter Alberti, kennengelernt und blieb. Als Kind einfacher Leute Im Krieg geboren, hat sie als Fünfjährige zusehen müssen, wie ihr Vater von Partisanen aus dem Haus geholt wurde und nie zurückkam. Vielleicht hat das sie geprägt, vor allem ihren unbestechlichen Blick auf soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung.

1987, dem Jahr zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland, gründete sie mit Ismet Kosan und anderen Gleichgesinnten aus Gewerkschaft, Schule und Hochschule den Senioren- und Migranten-„Verein für Internationale Freundschaften“, ViF.Jahrzehntelang prägte sie die Vereinsarbeit, initiierte oder leitete soziale Projekte für Frauen, Mädchen, Jugendliche, Kinder und vor allem für die älteren, arbeitslos gewordenen Stahl- und Bergarbeiter – immer ehrenamtlich.

Besonders wichtig war ihr die Einflussnahme auf die Dortmunder Stadtpolitik: Im Ausländerbeirat, Sozialauschuss, Kulturausschuss und später durch Mitarbeit am Integrations-Entwicklungsplan. Sie war die Stimme der Migranten und Migrantinnen, egal welcher Herkunft, in Arbeitskreisen, beim 1. Maifest im Westfalenpark, bei den Nordstadtbildern, auf dem Münsterstraßenfest oder im Dietrich-Keuning-Haus. Zuletzt prägte sie die Biografiegeschichten, die der Verein veröffentlicht hat, über türkische Jugendliche aus den 60ern, ihre Frauen und später über Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Wir gratulieren Ihr

Und mehr aus ihrem Leben, aus unserem Biografiearchiv:

Wie kommt die Italienerin Cuppini nach Deutschland, studiert Germanistik, wird Deutsch-Lehrerin in Italien und heiratet schließlich einen Deutschen mit dem italienischen Namen Alberti?

Eine junge Frau Carrera aus einem Dorf in der Nähe von Bologna half oft bei ihrem Schwager in einem kleinen Restaurant aus, in der ein gewisser Herr Lamborghini gerne zu Mittag aß. Er hatte ein Auge auf die junge Frau geworfen, die sich gern hübsch anzog, eine begabte Näherin war und die gern einen Mode-Salon eröffnet hätte. Es war in der Zeit des ersten Weltkrieges – ihr Verlobter war bei der Armee und hörte nicht gern von diesem Herrn  Lamborghini, der damals Fahrräder und noch keine Autos produzierte. Es kam zum Eklat, Herr Cuppini löste die Verlobung und es kostete einige Mühe, das Vertrauen des zukünftigen Bräutigams zurückzugewinnen.

Damit begann die jüngste Geschichte der Familie Cuppini in Argelato. Vater Cuppini war Gemeindebote, vor allem bei den umliegenden Bauernhöfen gern gesehen. Er soll ein fröhlicher Mensch gewesen sein, der gerne Geschichten erzählte und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Mehr weiß die Jüngste der Familie, Allessandra, genannt Sandra, von ihrem Vater nicht – er wurde von einem Kommando fremder, nicht ortsansässiger Partisanen ermordet, angezeigt von Neidern im Dorf, als sie knapp vier Jahre alt war.Sie wird nie vergessen wie das geschah: die Männer kamen ins Haus, verlangten nach Ugo, der, weil schon gewarnt, untergetaucht war. Da drohten sie die gesamte Familie mitzunehmen, wenn er sich nicht stellen würde. Er kam aus seinem Versteck, ging mit denen und kam nie wieder.

Es war wieder Krieg, die Zeit des nahenden Endes des Mussolini-Faschismus. Argelato war erst vor kurzem befreit und von den deutschen Truppen verlassen worden. Die Folgen dieses politischen Dramas bestimmte fortan das Schicksal der Familie Cuppini.

Ugo Cuppini war kein Faschist, aber als Angestellter des Staates auch kein Gegner. Sein Herz galt den Sozialisten und stets hat er, wenn es notwendig war, den sozialistischen Freunden geholfen. Aber sein Bruder Ercule,  Kommunist der ersten Stunde mit der Mitglieds-Nummer 1 und berühmter Kommandeur der Partisanen im Kampf für die Vertreibung der deutschen faschistischen Armee und den Sturz Mussolinis, kam zu spät um ihn vor diesem „Mob“ zu retten. Nach dem Mord an seinem Bruder war dieser außer sich und fand nicht mehr in das normale Leben zurück, er trank, aber er war immer für Sandra da. Jeden Abend brachte er sie zu Bett und erzählte ihr eine Geschichte. Immer wieder war es eine Geschichte von „giovannino sensa paura“ – das furchtlose Hänschen. Die Abenteuer dieses Jungen wurden ihr eigen: keine Angst zu haben!

Die politischen Hintergründe des Verlusts ihres Vaters waren Sandra damals nicht klar. Es gab Merkwürdigkeiten, für die sie keine Erklärung kannte: manche Nachbarn grüßten nicht mehr, gingen auf die andere Straßenseite.  Oft  musste sie schnell davonrennen, wurde regelrecht verfolgt und von Fahrradfahrern bedrängt, als ob sie ihr ans Leben wollten. Nur ein alter Mann, der Müll sammelte, rettete sie oft und wurde ihr Beschützer. Schmerzlich und unverständlich war dazu der plötzliche Verlust des Bruders Guido. Auch er wurde ermordet. Übrig blieb sein grünes Fahrrad, auf das er „seine“ Sandra, sobald er von der Arbeit kam, heraufholte um mit ihr eine Tour durchs Dorf zu machen, Er sagte immer: „Ihr hattet unsere Kleine den ganzen Tag, jetzt gehört sie mir!“ und schwupps radelten sie davon. Nun kam er plötzlich nicht mehr, nur das Fahrrad war noch immer da.

Von einem zum anderen Tag wurde die Familie mit dem Bruder Francesco und zwei älteren hoffnungslos arm. Sie waren auf Almosen und Hilfe angewiesen. Schwester Alfonsina, die das Geschick ihrer Mutter hatte, musste auf eine Modeausbildung verzichten und nähte nun privat vor allem für die Bauernfamilien der Umgebung. Die andere begabte Schwester musste auf die erträumte Ausbildung als Opernsängerin verzichten. Francesco ging hungrig zur Schule und kam hungrig zurück. Bis sein Banknachbar, ein aufmerksamer Bauernsohn ihn einst fragte, wo denn seine „Merenda“ sei?  Butterbrote? Er kannte nicht einmal dieses Wort. Dieser Junge erzählte davon zuhause und fortan brachte er doppelte Portionen mit. Manchmal steckte dessen Mutter auch Obst und Kuchen in seine Tasche „für zuhause“. Seitdem verabredeten sich die Mütter der Bauern aus der Umgebung für Bestellungen von Kleidern für sie selbst und ihre Töchter, um die Familie Cuppini zu unterstützen. Während die Schwestern bald heirateten und Francesco im Priesterseminar Aufnahme fand und versorgt war, bekam die aufgeweckte Sandra die Chance, in Bologna auf die Schule zu gehen und später zu studieren. Das war immer Guidos Traum gewesen. Er wollte sie immer unterstützen und war sicher, dass sie eine „Dottora“ werden würde.

Warum aber studierte sie gerade Deutsch?  ‚Ich hatte gute Erinnerungen an unsere einquartierten Soldaten. Einer war aus Österreich und half uns und besorgte uns Dinge zu essen.  Am meisten hat mich der Strudel begeistert, den er für uns machte. Dabei schlug er immer auf den Teig ein „zack und klatsch, peng“ und rief dazu ‚das ist für Hitler‘! Wir mussten viel lachen.“

Nach einiger Zeit als Lehrerin an der Adria und später im Norden in Rovereto,  ging sie nach Münster um weiter zu studieren und zu promovieren. „Da empfahl man mir einen Studentenvertreter einen Italiener, der im Ausländerreferat besonders aktiv mit den ausländischen Studenten zusammenarbeitete. Es stellte sich heraus, dass er zwar einen italienischen Namen trug aber kein Wort italienisch konnte.“  Das war Peter Alberti, der Mann, den sie dann später heiratete. Auch Peter hatte seine Kriegsgeschichte: er war kurz nach dem Krieg nach Schottland verschickt worden, kam zurück in das Nachkriegsdeutschland zur Familie nach Karla, dann DDR, konnte kein Wort Deutsch mehr und war plötzlich hoffnungslos ausgegrenzt. Er ging als Flüchtling mit seinem älteren Bruder über das Lager Friedland nach Westdeutschland und fand nur langsam seinen Weg ins Studium und zu seiner Berufung als Lehrer. In gewisser Weise „entwurzelt“ auch er, schlossen beide, Sandra und Peter, viele Freundschaften mit anderen ausländischen Studenten, die zum Teil bis heute währen.

Sandra blieb sensibel für Diskriminierung, Ausgrenzung und soziale Not.

Sie begann als Schwangerschaftsvertretung im Dortmunder Norden Deutsch-Unterricht für italienische Schüler: es gab kein Material, sie musste es erfinden; die Schüler waren blässlich und teilnahmslos. Sie entdeckte, dass die Eltern arm waren, dass sie in feuchten Wohnungen wohnten und kaum die Sonne sahen. Sie versuchte zu helfen und war über Jahrzehnte die Anlaufstelle für viele italienische Familien in Not und bei Fragen zu allen möglichen Anlässen. Bruno, Besitzer des Restaurants „Mozzarella“ erinnert sich mit Stolz an sie „Sie hat uns immer geholfen“. Mit den italienischen Arbeitern in Dortmund  gründete sie den ersten politischen italienischen Verein.

Aber auch sie, die „Dottora“ der Germanistik, musste Diskriminierung erleben.  Bei der Geburt ihres Sohnes im Städtischen lag sie zwar erster Klasse – ihr Mann war Beamter – aber ihr Schreien und bittendes Rufen half nichts, als ihre Schmerzen stark wurden und sie Angst bekam.  Sie wurde vernachlässigt – eine Schwester meinte „Die Südländer schreien immer und übertreiben  gerne“–  bis eine Ärztin kam und sehr rasch feststellte dass es höchste Not war die Geburt einzuleiten.

„Ich werde meine Not und diese Angst, dass mein Kind vielleicht sterben könne oder krank zur Welt käme, nie vergessen.“

Es kam auch vor, dass ein Verkäufer an der Haustür, wenn sie mit ihrem Sohn aufmachte, mit dem sie „bolognesisch“ sprach, schon mal sagte: „Rufen Sie doch  bitte die Hausfrau, ich möchte etwas vorstellen“ – als sei sie das Hausmädchen.

Trotz alledem: Dortmund ist für sie Heimat – hier hat sie sozial und politisch ihr ganzes Leben gewirkt, wurde eine Institution, wenn es um Migranten und Senioren ging und geht, gründete schon 1987 mit anderen den Verein für Internationale Freundschaften und machte ihn zu dem, was ViF wurde und heute noch ist: ein unabhängiger Migranten-Treffpunkt.  Viele Initiativen gingen von ihr aus. Die Stadt Dortmund, die Senioren und Seniorinnen und die vielen Migranten und Migrantinnen in dieser Stadt haben ihr viel zu verdanken!

Wir wünschen Ihr Ruhe und Gelassenheit und danken für Ihr großartiges Engagement über so viele Jahre!